
DIE SECHSTE JAHRESZEIT
Vor kurzem habe ich irgendwo gelesen, es gäbe gar nicht vier, sondern sechs Jahreszeiten: Mai und Juni als schönster Frühling; Juli und August für heißen Sommer; September und Oktober sind goldener Herbst. Dann kommt mit November und Dezember die Zwischenzeit der allmählichen Erstarrung. Eine Zeit, die die Landschaften versiegelt, die Welt hinter einem Kältevorhang abschließt. Der Winter ist erst mit Januar und Februar wirklich eingesessen. Bis er sich im März und April, der Zwischenzeit der Öffnung und des Taus, wieder erhebt und endlich ganz von dannen macht.
Im Januar habe ich genau dieses Gefühl: erst jetzt ist Winter, erst jetzt ist alles so starr, nackt und still. Der Winter ist da.

Seit E. auf der Welt ist, erlebe ich die Jahreszeiten aufmerksamer. In „unserem“ Parc Georges Brassens im 15. Arrondissement zeige ich ihr Monat für Monat beim Spazieren die sich wandelnden Buchen, Birken und Ahornbäume, die Blumenbeete und Sträucher. Sie sitzt in ihrem Kinderwagen und zeigt mit ihrem Finger hoch in die Baumkronen. Jetzt ist es Winter und sie lernt, dass „Bäume“ auch noch „Bäume“ sind, wenn sie keine Blätter mehr haben und nur noch aus kahlem, schwarzem Geäst bestehen.
Und sie erlebt zum ersten Mal Schnee. Steckt ein Klümpchen in den Mund und, von der Kälte überrascht, streckt die Zunge sogleich raus. Sie stapft einen frisch verschneiten Parkweg entlang, tritt auf der Stelle und wundert sich über das dumpfe, bremsende Gefühl unter den Sohlen. „Mh?“ fragt sie mich. „Schnee!“, sage ich. „Mh.“, antwortet sie und schaut auf ihre Stiefel herab. Das Weiß blendet und macht sie müde. Bis morgen wird der Schnee wieder aus Paris verschwunden sein.


4 Kommentare
marie
wie schön du das beschreibst und wie liebevoll du das machst mit deiner kleinen Tochter, so ganz aufmerksam. Ich weiß noch, wie das war…man erlebt alles neu mit den sinnen des eigenen kindes. aber so schön wie du das beschreibst…
Friederike
Vielen Dank, Marie! Es ist wirklich, als entdecke man selbst noch einmal die Welt, wenn das Kind Ding für Ding beginnt wahrzunehmen, dann das entsprechende Wort wiedererkennt und es irgendwann selber sagen kann. Ein kleines Wunder!
Lilo
Es ist so, wie mit deinen Gedichten Ida… Du findest Worte für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Schon jetzt liest es sich, als würde man in einen Fotoalbum vergangener Zeiten blättern und fühlen, wie es war – mit einer inbrünstigen, erkennenden Liebe in der Brust. Fast schon ein kleiner Schmerz..
Friederike
ja, diese kleine Melancholie angesichts des Zeitvergehens… noch viel häufiger und mit anderer Intensität, wenn man Mutter wird, Vater wird, und das eigene Kind in Lichtgeschwindigkeit wachsen und sich entwickeln sieht.