
Fünf Jahre für ein Gedicht
Ich erinnere mich oft noch genau an den Moment, in dem mir der Einfall für die ersten Verse eines Gedichts kam. Präzise sehe ich den Ort, das Licht, die Jahreszeit – die Kreuzung von äußeren Eindrücken und innerer Verfassung, die den Einfall möglich machten.

Ein kühler Aprilabend vor fünf Jahren. Ich bin auf dem Heimweg von einer öffentlichen Veranstaltung in der Sorbonne. Still hatte ich in der Lesung gesessen, den Dichtern und Essayisten auf der Bühne zugehört. In Gedanken schweifte ich immer wieder ab und reiste weit, bis mich dann und wann ein leuchtender Vers wieder in den Raum zurückbrachte. Am Ende der Lesung wurde zu einem Glas Wein geladen, aber weil ich allein da war, machte ich mich wieder auf den Weg, den Kopf voll surrender französischer Versfetzen, beschwingt und ein wenig melancholisch.
Über den Boulevard Saint Michel erreichte ich den Jardin du Luxembourg: Es hatte geregnet und die Alleen trieften; kaum ein Mensch war unterwegs. Überall an den Rasenflächen, verstreut unter Kastanien und Linden standen noch die Grüppchen von Parkstühlen, die man bei den ersten Tropfen hastig zurückgelassen hatte.

So standen sie da, in der Pose der Insekten, die Beine im Schlamm, starr und fröstelnd, als wünschten sie sich die Gespräche, die die müßigen Menschen auf ihnen geführt hatten, zurück; auch die warmen Rücken und Ellen, den Puls des Lebendigen an ihrem Metall.
Ich kritzelte noch im Gehen ein paar dieser Beobachtungen auf einen Zettel. Die Stille und Kraft des Gesehenen wirkte auf dem letzten Wegstück bis in die Rue d’Assas noch nach.
Aus den Notizen enstand erst Monate später ein Gedicht, jedenfalls eine erste Version. Dann eine zweite, eine dritte. Irgendwann schickte ich das Gedicht zusammen mit anderen Texten an eine Literaturzeitschrift. Die Redaktion sagte zum Parkstühle-Gedicht: Schöne Idee – aber das muss noch reifen.
Ich ließ den Text ruhen. Erst über zwei Jahre später hatte ich so viel Abstand zu dem Gedicht, dass ich sein Material noch einmal “behauen”, es verdichten und vertiefen konnte. Es ist meinem Empfinden nach auch immer noch nicht “fertig”.


Im Herbst 2018 erschienen die “Parkstühle” neben zwei weiteren Gedichten von mir in der Zeitschrift RISSE. Die Illustratorin Karen Obenauf (eine schöne Künstler-Website!) lieferte dazu eine Grafik, ein Spiegelbild zum Gedicht: die triefenden Stühle, durchsetzt von menschlichen Elementen.
Vom Einfall bis zum „fertigen“ Gedicht vergehen bisweilen Jahre – es braucht diesen Reifeprozess. Er bringt Sprache und Form so ins Verhältnis, dass das lyrische Bild (im besten Fall) kraftvoll hindurchleuchten kann.


